Die Vernunft und der Staub


Verhangener Himmel, der Wind pfeift durch die Kellergasse. Echt ungemütlich heute. Ich putze und räume, das Presshaus darf langsam aus dem Winterschlaf geweckt werden. Die Einrichtung hat sich ein hübsches Staubmäntelchen zugelegt. Ich spiele mit dem Gedanken, mir ein Glas Wein einzuschenken, ein paar Flaschen sind ja noch da. Die Kühlung ist zwar aus, die braucht man aber jetzt auch wirklich noch nicht. Immerhin ist das Wasser warm, mit dem ich die Küche putze, das wärmt. Irgendwie. Und jetzt so ein klitzekleines Arbeitserleichterungsglasal... 
Im Zweifelsfall entscheide ich mich normalerweise dafür. Eh klar. Rosé hätt ich gesichtet. Cabernet Sauvignon mmmhhhh. Aber heute, heute bleib ich beim Tee in der Thermoskandl. Ist wahrscheinlich die vernünftigere Entscheidung. Wann zu Hölle bin ich VERNÜNFTIG geworden, frage ich mich jetzt, während ich das tippe. Ein Wort mit dem ich eigentlich nichts anfangen kann. Oder konnte. Ich hab mir doch irgendwann geschworen, genau das nie zu sein. Vernünftig, spießig, normal. Also all die Sachen, die "alte" Leute eben so machen. Also all die jenseits der 20er.  Ja, ihr merkt schon, dieser Schwur ist wohl schon "etwas" her. Ich bleib immer jung. Ich werd eine hippe, coole Mama. Karriere mach ich natürlich, so ganz nebenbei und sagen lass ich mir von niemandem auch nur irgendwas. Angst? Was ist das. Vernunft? Nie gehört. Weltreisende? Ja vielleicht. Großstadtleben? Natürlich! 


20 Jahre später, leb ich in meinem kleinen Weinviertler Nest. Zweihundertundirgendwas Einwohnern, verreise bis nach Kärnten, weit weg. Meine Fünfjährige verdreht jetzt schon manchmal die Augen, wenn ich ihr was erkläre. "Weiß ich doch, Mama." Ich fürchte, sie findet mich schon jetzt nicht mehr cool. Achja hab ich erwähnt, dass ich an den meisten Tagen um 21 Uhr im Bett bin und lieber im Garten in der Erde wühle, als shoppen zu gehen, lieber im Kellergassl jausne, als in schicken Restaurants zu verkehren? Also natürlich kauf ich auch gern ein und gehe gern gut essen, aber wenn ich mich jetzt entscheiden müsste...
Ein ganz normales Leben also. Wer hätte das gedacht. Ach eh jeder. Außer mir natürlich. 

"Was ist nur aus mir geworden?" Die Frage stell ich mir wieder. "Genau das, was du werden wolltest", sagt eine Stimme in mir. "Nur gewusst hast es halt nicht schon immer". 
"Stimmt", denk ich mir und schenk mir ein Glas Rosé ein. Die Vernunft muss noch ein paar Jährchen warten, oder ein paar mehr. 

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